Achtsamkeit ist, die Wassertropfen auf einem Blatt zu vermerken

Achtsamkeit – eine 2.500 Jahre alte Lebensweisheit

Die Achtsamkeit ist populär geworden. Fragt man Zukunftsforscher, sprechen sie von einem Mega-Trend. Es kann einem dieser Tage ganz schwindelig werden bei all dem, was oder wer alles so achtsam ist. Aber was bedeutet Achtsamkeit eigentlich? So etwas wie Aufmerksamkeit vielleicht? Oder Gewissenhaftigkeit? Muss man, um achtsam zu sein, vor allem langsam sein, besonders präzise oder auch politisch korrekt? Einblicke in eine 2.500 Jahre alte Welt.

Der fernöstliche Ursprung der Achtsamkeit

Achtsamkeit bezeichnet einen Geistes- oder Bewusstseinszustand und begründet sich historisch auf dem Begriff sati. Das Wort stammt aus der altindischen Sprache Pali und ist heute mit Geistesgegenwart zu übersetzen, ursprünglich besaß er jedoch eine Doppelbedeutung: erinnern und im Geiste halten. Pali ist auch die Sprache, in der die buddhistische Lehre, der Pali-Kanon, in den ersten Jahrhunderten nach Buddhas Tod niedergeschrieben wurde.

Herzstück des Pali-Kanon ist der Achtfache Pfad, denn er führt zur Befreiung vom Leid durch den erwachten Geist. Die Rechte Achtsamkeit (Sammā-sati) spielt dabei eine entscheidende Rolle. So antworte Buddha auf die Frage Was ist rechte Geistesgegenwart? Folgendes:

Hier verweilt ein Mönch in Betrachtung des Körpers im Körper, eifrig, wissensklar und achtsam, frei von Begehren und Sorgen hinsichtlich der Welt. Er verweilt in der Betrachtung der Gefühlstönungen in den Gefühlstönungen … er verweilt in der Betrachtung der Gemütszustände in den Gemütszuständen … er verweilt in der Betrachtung der Geistesinhalte in den Geistesinhalten, eifrig, wissensklar und achtsam, frei von Begehren und Sorgen hinsichtlich der Welt.

Vermutlich wurde sati in diesen Zeilen erstmals schriftlich festgehalten, damit ist die Achtsamkeit rund 2.500 Jahre alt und entstammt der buddhistischen Lehre und Meditationspraxis.

Minimalistische ostasiatische Kunst
Achtsamkeit im wissenschaftlichen Westen

Wissenschaftlich betrachtet, existieren heute unterschiedliche Definitionen von Achtsamkeit (Mindfulness). Den großen Achtsamkeitstrend, den wir heute sehen, begründete der Molekularbiologe Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn als er in den 1970-er Jahren das MBSR-Programm (Mindfulness-Based Stress Reduction) in den USA entwickelte. Er definiert den Begriff wie folgt: Achtsamkeit bedeutet, seine Aufmerksamkeit mit Absicht und ohne Wertung auf den gegenwärtigen Moment zu richten.

Jeder von uns besitzt eine natürliche Begabung zur Aufmerksamkeit. Damit aus ihr aber Achtsamkeit wird, braucht es nach Kabat-Zinns Definition noch drei weitere Aspekte:

1. Aspekt: Mit Absicht

Wenn wir achtsam sind, können wir unsere Aufmerksamkeit bewusst lenken. Wir können sie, wie das Licht eines Scheinwerfers, auf einen einzelnen Punkt fokussieren oder auf den ganzen Raum ausweiten. Unsere Achtsamkeit kann sich nach außen oder nach innen richten. Im MBSR üben wir dieses ganz bewusste Ausgerichtet-sein in verschiedenen Formen, etwa in der Meditation auf den eigenen Atem. Mithilfe der Meditation lässt sich Achtsamkeit wie ein Muskel trainieren – und der zerstreute Geist erfährt Sammlung.

2. Aspekt: Ohne Wertung

Die akzeptierende Haltung, die wir bei der Achtsamkeitsübung im MBSR einnehmen, ist mit der eines Naturforschers vergleichbar: Unvoreingenommen, aber voller Interesse und Hingabe beobachtet er sein Forschungsobjekt. Ganz gleich, wie es sich gerade zeigt. Ohne Urteil.

Natürlich werden wir als Menschen immer den Impuls verspüren, bewerten zu wollen – und im Alltäglichen müssen wir das auch. Was wir beim Achtsam-sein aber lernen, ist auch unser eigenes reflexartiges Bewerten zu betrachten, es überhaupt zu registrieren. Wir können unsere Gedanken und Werturteile wie unseren Atem beobachten – und auch das, was sie mit uns und unserem Leben machen.

3. Aspekt: Im gegenwärtigen Moment

In vielen religiösen oder philosophischen Traditionen wird gelehrt, dass Glück und Zufriedenheit nur im gegenwärtigen Augenblick erlebt werden können. Heute ist es fast schon eine Binsenweisheit, dass unser Leben, unsere Lebendigkeit nur im Hier und Jetzt stattfindet. Denn die Vergangenheit ist nur eine Erinnerung, die Zukunft nicht mehr als eine Idee – sie sind Gedanken. Gedanken, die unseren Geist bevölkern und nicht selten völlig für sich einnehmen. Das Leben passiert derweil und läuft unbemerkt an uns vorbei. Achtsamkeit ist also die Fahrkarte ins Jetzt – und so wird aus einer Binsenweisheit eine gelebte, ganz persönliche Erfahrung. Achtsamkeit hilft uns an-wesend sein – im Körper, im Er-leben.

Signet mit Bergen

„Achtsamkeit ist das nicht wertende Gewahrsein jeden Augenblicks.“

– Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn
Wozu dient Achtsamkeit?

Achtsamkeit hilft, den Autopiloten auszuschalten. Denn wir alle lassen uns leicht von unseren Plänen oder Stimmungen, Sorgen und Grübeleien davontragen. Achtsamkeit besitzt die Kraft, uns aus unseren eingefahrenen Denk- und Reaktionsmustern herauszuholen. Auf dieser Grundlage eröffnet sie uns ganz neue Sichtweisen und damit auch Wahlmöglichkeiten. Es geht bei der Achtsamkeit also um nicht weniger als um Selbstbestimmtheit und freie, ganz bewusste Lebensgestaltung.

Darüber hinaus kann die Übung der Achtsamkeit – zu der eine formelle Meditationspraxis, aber auch eine informelle Alltagspraxis gehört – in den stabilen Geisteszustand des Achtsam-Seins übergehen und damit ins offenen Gewahrseins (Awareness) und damit in eine spirituelle Erfahrung.

Noch mehr Achtsames: Podcast-Tipp

Die Sendung Radiowissen (BR) hat einen hörenswerten Beitrag zum Thema Achtsamkeit produziert. Hier lässt sich die Folge nachhören.